Gute 20 Minuten später als geplant wechseln wir bei Bremen von der A1 auf die A27 – weiter in Richtung Küste, sonst ändert sich nix. Bereits vor gut 2 Stunden sind wir in Münster bei ergiebigem Landregen direkt in den Stau gestartet. Jetzt sind es sind immer noch gute 100 Kilometer bis Cuxhaven – da darf nicht mehr viel dazwischen kommen. Denn unsere Fähre, die gleichzeitig die einzige des Tages ist, legt um 10.30 Uhr ab. Ziemlich genau um 10.10 Uhr biegen wir auf den Hafenparkplatz ein, wenig später stehen wir – absolut pünktlich – vor dem Schiff mit dem merkwürdigen Namen MS Funny Girl. Fahrtziel: Helgoland.
Deutschlands einzige Hochseeinsel ist im Winter nicht so komfortabel zu erreichen, wie man es von anderen Inseln entlang der deutschen Küste kennt. Nur eine Fährverbindung am Tag – und manchmal noch nicht einmal das. Die Zahl der Gäste an Bord ist sehr überschaubar. Eine einzige Servicekraft versorgt die Passagiere mit Getränken und Snacks. Kurz nachdem unsere – ziemlich spontane – Entscheidung für ein Winterwochende auf Helgoland fiel, habe ich allerlei Geschichten über die mitunter anstrengende Anreise per Schiff gelesen. Stichwort: Fische füttern. Daran muss ich nun zwangsläufig denken, als das Pärchen nebenan die bestellte Riesenportion Pommes Frites mit Currywurst futtert. Wir bleiben – vorsichtshalber – beim Brötchen. Man weiß ja nie.
Rund 2 1/2 Stunden dauert die Überfahrt von Cuxhaven aus. Im Vergleich zu den Fährfahrten auf ostfriesische Inseln wie Norderney oder Borkum, schaukelt die MS Funny Girl von Beginn an recht ordentlich. Allerdings hatte der Wetterbericht auch auffrischenden Wind und für den Nachmittag sogar erste Sturmböen vorhergesagt. Als wir gut eine Stunde auf See sind, nimmt der Wellengang dann noch einmal spürbar zu. Die nette Dame, die eben noch Fischbrötchen und Kaffee verteilte, kontrolliert nun im Vorbeigehen und mit geübtem Blick die Verfassung der einzelnen Passagiere. Kommentarlos verteilt sie Spuckbeutel aus Papier an ausgewählte Personen. Wenig später kommt zum ersten Mal der knallgelbe Nass-Trocken-Sauger zum Einsatz. Wir verziehen uns nach draußen an die frische Luft.
Kurz bevor Helgoland in Sicht ist, klart der Himmel auf und die Sonne lässt sich blicken. Wenig später legt die Funny im Südhafen an. Das berüchtigte Ausbooten vor Deutschlands einziger Hochseeinsel entfällt im Winter. Wir packen unseren Koffer und trotten den anderen Gästen hinterher. Unsere Unterkunft liegt im Oberland. Helgoland ist autofreie Zone – zumindest fast: Einige putzige Elektromobile gibt es schon. Aber schnell wird klar: die Insel ist so winzig, dass ein Verlaufen zum Ding der Unmöglichkeit wird. Das ist nun eigentlich ganz praktisch, denn so richtig gut informiert haben wir uns vorher nicht. Ein paar Infos von der Touristikzentrale und dann das Kontrastprogramm der taz – ein Zufallsfund bei der Internetkurzrecherche. Wir sind gespannt, welche Einschätzung zu Helgoland treffender sein wird.
Über den Lung Wai latscht man an zahlreichen Duty-Free-Shops vorbei, direkt auf den Aufzug zu, der Ober- und Unterland der Insel miteinander verbindet. Die Fahrt kostet 60 Cent. Die 184 Treppenstufen gleich nebenan kosten nix, sind mit dem Koffer aber nicht zu empfehlen. Wir steuern in Richtung Kirchturm und stehen wenige Augenblicke später vor unserem kleinen Hotel. Die Begrüßung in den Mocca-Stuben ist herzlich. Von Helgoländer Unfreundlichkeit keine Spur. Ganz nebenbei weist Inhaber Stephan schon einmal darauf hin, dass am Wochenende wohl nicht mehr mit einer Fähre zu rechnen sei – es ziehe ein Sturm auf. Stört uns nicht wirklich, wir wollten ohnehin bis Montag bleiben. Das Zimmer macht einen guten Eindruck – also geht’s direkt wieder raus, die Insel erkunden. Nach wenigen Metern stehen wir direkt vor dem Leuchtturm. Mit rund 28 Seemeilen Reichweite ist er das stärkste Leuchtfeuer der deutschen Küste. Natürlich! Denn Helgoland ist auch ein bisschen die Insel der Superlative – dazu später noch mehr.
Nun sind wir erst einmal schwer beeindruckt – vom Blick auf die roten Klippen und die berühmte Lange Anna. Und von der winderlichen Kulisse, denn die steife Brise hat längst zu einem ordentlichen Sturm aufgefrischt. Das dunkelgrüne Wasser der Nordsee wird von weißen Wellenkämmen unterbrochen. Die Gischt der Brandung ist noch etwa 50 Meter weiter oben am Klippenrand zu spüren. Ohrenbetäubend pfeift der Radarturm, der ebenfalls auf dem Oberland installiert ist. Am Horizont wird die Sonne immer wieder von gewaltigen Wolkenformationen verdeckt.
Danach geht’s wieder Richtung Unterland. Pünktlich zur Mittagszeit ruft der Hunger, geöffnet hat allerdings nur wenig. Auf Helgoland gelten noch historische Ladenöffnungszeiten. Man öffnet spät, schließt über Mittag und hat nach 18 Uhr selbstverständlich Feierabend. Das sorgt beim Stadtbewohner anfangs für Irritationen. Schnell wird aber klar, dass das auch eine Form von Entschleunigung sein kann. Und was sucht man sonst, mitten im Winter, auf Helgoland? Nach einem kurzen Snack im Unterland geht’s über die Treppen zurück nach oben. Die Insel wirkt fast wie ausgestorben. Viele Läden sind dunkel, auf den Straßen begegnet man nur vereinzelt Menschen.
Mit einbrechender Dämmerung kehren wir im Café Krebs ein, mit Panorama-Blick vom Falm über auf die unruhige Nordsee. Viel los ist nicht, gerade einmal ein Gast schaut aus dem Fenster. Viel los war wohl auch in den vergangenen Tagen eher nicht, denn Inhaber Benno fragt uns zielstrebig nach der Anzahl der mitreisenden Gäste auf der Fähre aus. Auf unsere Antwort reagiert er mit einem eher ernüchternden Blick und leichtem Kopfschütteln. Wir bestellen Kaffee, Tee und Eiergrog-Sahnetorte. Beim Servieren prohezeit uns Benno, dass aus unserer geplanten Rückreise am Montag sicher nichts wird, und überhaupt: vor Weihnachten? Nur vielleicht. Beim Abendessen in den Mocca-Stuben erfahren wir, dass die Fährverbindung für den nächsten Morgen gestrichen ist. Der Backsalt – ein typisches Helgoländer Fischgericht – schmeckt saulecker.
Samstag. Bereits am Vorabend und in der Nacht hatte sich der aufziehende Sturm angekündigt; der Radarturm „singt“ seitdem ohne Unterlass. Nach dem Frühstück ist klar, dass aus dem eigentlich geplanten Ausflug auf die direkt vor Helgoland gelegene Düne nichts werden wird. Nicht nur für die MS Funny Girl, sondern auch für die Dünenfähre Witte Kliff sind die Wellen der aufgewühlten Nordsee zu hoch. So bleiben die dort heimisch gewordenen Kegelrobben vorerst unter sich und die wenigen übrigen Hotelgäste weiter auf der Insel. Zwangsweise. Denn eigentlich wollte die kleine Gruppe aus Holland am Samstag abreisen. Nun hofft man auf den Sonntag.
Wir entscheiden uns für kurzen Abstecher an das rote Bundsandsteinkliff. Man kann sich wortwörtlich in den Wind legen, der einem ohrenbetäubend um die Nase bläst – für den Klippenrundweg um das Oberland ist es zu stürmisch. Stattdessen geht’s am Leuchtturm vorbei ins Unterland, in Richtung Hafen und zu den Hummerbuden. Die bunten Holzhäuschen verbreiten ein wenig skandinavisches Flair auf Helgoland und sind ein beliebtes Fotomotiv. In der Hauptsaison gibt’s hier Fischbrötchen, Getränke, ein wenig Kunst, Souveniers und anderen Tinnef.
Am frühen Nachmittag geht’s erneut ins Café Krebs. Eine Institution auf der Insel, wie wir mittlerweile wissen. Zwischen zahlreichen Schwarzweiß-Fotografien an den Wänden, die unter anderem Kaiser und Führer auf Helgoland zeigen, sitzt man auf einer Bestuhlung im Stil des berüchtigten Gelsenkirchener Barocks und fühlt sich unmittelbar um ein paar Jahrzehnte in die Vergangenheit katapultiert. Unter der Decke hängt ein Röhren-TV mit Holzfurnier, mittendrin stehen Sahnetorten, die ihrem Namen alle Ehre machen. Die brummende Kühlung der Tortenvitrine unterbricht in regelmäßigen Abständen die im Hintergrund tönende Mischung aus alten Schlagermelodien und Easy Listening. Ein Helgoländer Original: Inhaber Benno Krebs, immer mit weißem Schiffchen und Schürze bekleidet. Wenn er nicht gerade zwischen Café- und Ladenbereich hin und her wuselt und von alten Zeiten erzählt, macht er bei Pils, Bockwurst und Butterschnitte Mittagspause – mitten zwischen den Gästen.
Am späten Samstagnachmittag begeben wir uns in den Helgoländer Untergrund. Die Führung durch die verbliebenden Reste des gigantischen Bunkersystems soll ein echtes Highlight sein. Die Führung ist dann auch tatsächlich ganz interessant. Vor allem wegen der persönlichen Geschichten und Anekdoten des Touristenführers, weniger wegen der vermeintlich beeindruckenden Zahl von Bombeneinschlägen auf der Insel, die er ebenfalls präsentieren kann. Damit wären wir wieder bei den Superlativen. Die werden auf Helgoland tatsächlich exzessiv verwendet: Austragungsort der bislang größten nicht-nuklearen Sprengung. Nirgendwo sonst lässt sich die besondere Ästhetik der deutschen Nachkriegsarchitektur in einem derart geschlossenen Ensemble bewundern. Und natürlich ist man Deutschlands einzige Hochseeinsel. Obwohl Helgoland tatsächlich weder in der Tiefsee, noch in internationalen Gewässern liegt – man muss das nicht alles so genau nehmen. Am Abend gibt es wieder Fisch in den Mocca-Stuben. Lecker!
Sonntag. Das Wetter hat sich deutlich beruhigt. Die Fähre kommt trotzdem nicht. Stattdessen wollen die anderen Hotelgäste nun per Flugzeug von der Insel flüchten. Die kleinen Propellermaschinen starten vom Flugplatz auf der benachbarten Düne; die Fähre dorthin soll zumindest am Nachmittag wieder fahren. Auf die Idee, statt der Fähre das Flugzeug zu nehmen, sind auch andere Inselurlauber gekommen. Nach einigem Hin und Her und mit etwas Glück ergattert die Gruppe aus den Niederlanden noch einige Restplätze. Der Flug zum Festland dauert nur etwa 30 Minuten, ist aber etwa viermal so teuer wie die Fährfahrt, Gepäck kann nur begrenzt mitgenommen werden und angeflogen wird Bremerhaven – die Autos der Fährpassagiere stehen aber in Cuxhaven.
Gegen Mittag steuern auch wir mit der kleinen Dünenfähre rüber zum sandigen Teil von Helgoland. In den Sommermonaten ist die vorgelagerte Insel mit ihren Sandstränden das Badeparadies für Urlauber und Einheimische. Es gibt einen kleinen Campingplatz und Bungalows für diejenigen, die es noch etwas inseliger als auf Helgoland selbst mögen. Im Winter ist die Düne dagegen vollkommen unbewohnt. Abgesehen vom Flugverkehr und den Robben, tummeln sich dann vor allem Tier-Fotografen auf dem Eiland. Denn zwischen November und Januar werfen die Kegelrobben ihren putzigen Nachwuchs – und näher kommt man diesen beeindruckenden Säugetieren vermutlich nirgendwo sonst in Deutschland.
Montag. Die Sturmböen sind zurück. Erwartungsgemäß fällt die Fährverbindung weiter aus. Mittlerweile sind wir die einzigen Gäste im Hotel. In der Nacht fühlt man sich ein bisschen wie im Overlook-Hotel aus Stephen Kings Shining. Wir haben zwar keinen meterhohen Schnee und auch viel weniger Platz, dafür aber jede Menge Wind, der sich lautstark bemerkbar macht. Ob am Dienstag die Fähre kommt ist ungewiss. Am Mittwoch ist Heiligabend. Dann und am 25. Dezember kommt laut Fahrplan kein Schiff. Am Nachmittag überlegen wir ernsthaft, für den Fall der Fälle eventuell doch das Flugzeug zu nehmen. Weihnachten auf Helgoland zu verbringen wäre zwar keine Katastrophe, könnte im Hotel aber zum Verpflegungsproblem werden: Viele Restaurants haben über die Weihnachtsfeiertage geschlossen.
Dienstag. Nach dem Frühstück steht fest, was wir schon befürchtet hatten: Die Fähre kommt nicht, der Seegang ist zu hoch. Aber an Heiligabend soll es eine Sonderfahrt geben, schließlich warten auf dem Festland noch zahlreiche Exil-Inselkinder, die Weihnachten bei der Familie auf der Insel verbringen wollen. Und auch die Windvorhersage stimmt optimistisch. Auf Helgoland ist der ungewöhnlich lange Ausfall der Fährverbindung längst zu dem Gesprächsthema mutiert, nicht nur unter den Gästen. Auch die Insulaner warten auf das Schiff und vor allem Personen und Dinge, die es an Bord haben wird – vom Enkelkind, über den Weihnachtsbaum bis zum Gänsebraten.
Mittwoch, Heiligabend. Die Fähre kommt! Bis zum Frühstück war das noch nicht so sicher: Der Wind ist immer noch stärker als vorhergesagt, die Überfahrt bei meterhohen Wellen sicher kein Fest für den Magen. Bei strahlend blauem Himmel geht’s gegen Mittag zurück nach Cuxhaven und von per Auto weiter nach Hause.
Unser Fazit nach nach einem deutlich verlängerten Wochenende auf Helgoland: Wir würden wiederkommen! Denn tatsächlich haben wir ziemlich genau das bekommen, was wir uns erhofft hatten. Raues Nordseeklima und echtes Insel-Gefühl. Im Winter mit nur wenigen anderen Gästen auf Helgoland festzusitzen ist ein Erlebnis der besonderen Art – zumindest wenn man keinen akuten Termindruck hat. Deshalb sollte man besser 1-2 Tage Urlaubspuffer einkalkulieren, wenn man einen Insel-Aufenthalt zu den üblichen Sturmzeiten plant.
Anders als eine taz-Reporterin, haben wir die unfreundlichen und ganztägig alkoholisierten Inselbewohner nicht erlebt – im Gegenteil. Gut möglich, dass der Tagestourist im Hochsommer andersgelaunte Gastronomen und Händler erlebt – aber wo ist das nicht so? Über die Schönheit der Insel kann man sich streiten. Die Nachkriegsbauten gehören eher nicht dazu. Und natürlich findet man viel Beton. Aber das alles wirkt irgendwie sehr authentisch, ohne Schi Schi. Wirklich beeindruckend schön ist der Ausblick auf die offene Nordsee – wenn man am Rand des Sandsteinkliffs steht und am gesamten weiten Horizont kein Land zu sehen ist. Der Blick auf die tiefrote Lange Anna während eines Sonneuntergangs, das Erlebnis zwischen Robben am Dünenstrand spazieren zu gehen – damit punktet Helgoland.
Wer Aktivitäten sucht, sollte die Insel dagegen besser meiden – zumindest im Winter. Die Sehenswürdigkeiten sind schnell erledigt, auch wenn es manche Kleinigkeit zu entdecken gibt, die den Tagestouristen in der Hauptsaison vermutlich entgehen. Beispielsweise die Bronzestatue von Hoffmann von Fallersleben, der auf der – seinerzeit noch britischen Insel – das Lied der Deutschen dichtete. Es bleiben: Spazierengehen, Kaffeetrinken, die Nase in den Wind halten, Robben ansehen, zollfrei einkaufen, leckeren Fisch essen, die Bunkerführung oder das Schwimmbad besuchen. Mit etwas Glück läuft ein interessanter Film im Nordseekino. Das Aquarium dagegen ist Geschichte – wir gehörten Ende 2014 zu den letzten Besuchern.
Ein toller Beitrag! Ich sollte auf jeden Fall einmal im Winter kommen. Genau diesen authentischen Eindruck erhoffe ich mir von einem längeren Aufenthalt.
Kürzlich fuhr ich für einen Tag nach Helgoland. Viel zu kurz. Meine Eindrücke von diesem kurzen Aufenthalt habe ich auf meinem Blog festgehalten.
Über deinen Besuch freue ich mich!
VG Sonja
http://www.delightfulspots.de/2016/05/10/helgoland-ausflug/
Danke! Hab‘ mir gerade deinen Bericht durchgelesen – so ein Tagesbesuch ist sicher auch mal was Feines. Viele sind aber enttäuscht, da einfach viel zu wenig Zeit bleibt.